Schöne Bescherung

 

„Das hätte sie mir auch schon früher sagen können!“, schimpft Iris laut vor sich hin und legt verärgert den Telefonhörer auf. Sie ist richtig sauer auf ihre Freundin. Gudrun hat Iris gerade mitgeteilt, dass sie in diesem Jahr nicht gemeinsam Weihnachten feiern können, weil sie zusammen mit ihrem neuen Freund zu dessen Eltern fahren will. „Schön blöde“, murmelte sie vor sich hin. Gerade dieses Jahr wäre es schön gewesen mit Gudrun gemeinsam feiern zu können.

 

„Was mache ich denn nun?“, fragt sie sich. Ihre Tochter Anja will ausgerechnet dieses Jahr an Weihnachten, zusammen mit ihrem Freund David, dessen Eltern besuchen, die in England leben. An der Familienfeier ihrer Schwester teilzunehmen, dazu hat sie schon gar keine Lust. Obwohl Margit nie müde wird, sie jedes Jahr immer wieder treu und brav einzuladen. Nein, auf Familienidylle und heile Welt mit Eltern, Kindern und Schwiegereltern kann sie gut verzichten. Ihre Schwester hat sowieso nie verstanden, warum sie sich von dem lieben Rolf hat scheiden lassen. Wie soll sie auch? Wie soll Margit verstehen, dass man in einer Beziehung einsam sein kann. Ihr Mann Harald ist ein absoluter Familienmensch, für ihn gibt es nichts schöneres, als seine freie Zeit mit der Familie zu verbringen.

* * *

 

Bei Rolf war das anders. War es im Laufe der Zeit anders geworden, oder war es schon immer so gewesen, und sie hatte es nur nicht bemerkt? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Es war ja auch egal. Er hatte immer treu und brav für seine Familie gesorgt, das musste man ihm lassen. Finanziell ging es ihnen sehr gut, da blieben fast keine Wünsche offen. Keine Arbeit und keine Überstunden waren ihm zu viel, um genügend Geld zu verdienen, damit die Familie sorgenfrei leben konnte. Ein gehobener Lebensstandard wurde für ihn mit der Zeit immer wichtiger, damit er vor seinem Vater bestehen konnte, seinem Vater, dem Herrn Bankdirektor. Hätte er stattdessen weniger Überstunden gemacht und mehr Zeit mit seiner Familie verbracht, dann hätte sie sich nicht im Laufe der Jahre fragen müssen, ob sie ihm noch wichtig war, oder ob er sie noch liebte. So war sie sich immer öfter wie ein Aushängeschild vorgekommen, das Rolf für sein berufliches Fortkommen benötigte. Nach außen die heile Familie, die treusorgende, verständnisvolle Ehefrau zu spielen, die ganz darin aufging für die Familie zu sorgen, das wurde ihr irgendwann zu viel. Lange Gespräche hatte sie mit Rolf geführt, um ihm auch ihre Bedürfnisse näher zu bringen, ihm zu erklären, dass gemeinsam verbrachte Zeit wichtiger war, als ein dickes Bankkonto. Aber er hatte es einfach nicht verstanden. Im Gegenteil, er hatte sie für undankbar gehalten, wo er doch alles für die Familie tat, und sie nicht arbeiten und Geld verdienen musste. Er hatte sich so sehr verändert und war nicht mehr der Rolf, den sie von früher kannte. Wie oft hatten sie früher miteinander gelacht, lange Gespräche geführt, gemeinsam Ausflüge unternommen und vieles mehr. Aber nichts davon war im Laufe der Jahre geblieben.

 

Als ihre Tochter geboren wurde, war ihre Welt noch in Ordnung. Anja war ein Wunschkind, und sie hatten sich beide sehr darüber gefreut, als Iris schwanger wurde. Während der Zeit der Schwangerschaft und auch in der ersten Zeit, als Anja auf der Welt war, hatte Rolf sich rührend um sie gekümmert. Doch bald darauf kam er abends immer später nach Hause, weil in der Firma so viel zu tun war, und er seinen Chef, der doch so große Stücke auf ihn hielt, nicht im Stich lassen wollte. Dann kamen immer öfter auch noch Verpflichtungen am Wochenende hinzu, denen er zusammen mit seinem Chef nachkommen musste. Zum Schluss blieb kaum gemeinsame Zeit übrig, und sie hatten sich nichts mehr zu sagen. Sie hatten sich einfach auseinander gelebt. Wo war die Liebe nur geblieben, die sie einmal füreinander empfunden hatten?

 

Iris hatte ihm trotz allem immer den Rücken frei gehalten, sich überwiegend alleine um die Erziehung von Anja gekümmert, und auch sonst alle familiären Angelegenheiten geregelt. Egal ob es um die Bedürfnisse seiner Eltern ging, oder die ihrer Mutter, die seinerzeit schon krank war, und um die sie und ihre Schwester sich abwechselnd gekümmert hatten. Als Anja dann nach der Schule mit ihrem Studium begann und sich gemeinsam mit zwei Freundinnen eine eigene Wohnung gesucht hatte, war da nur eine große Leere geblieben. Iris wusste lange nicht, wie es weitergehen sollte. Sie beschloss, noch einmal mit Rolf zu reden und zu versuchen, ihre Ehe zu retten. Aber ihr Mann und sie lebten anscheinend in verschiedenen Welten, und so hatte sie schließlich die Scheidung eingereicht.

 

Am Anfang war es sehr schwer für Iris. Sie musste sich nach so vielen Jahren eine Arbeit suchen, um wieder selbst Geld zu verdienen. Von Rolf finanziell abhängig sein, das wollte sie nicht. Das Haus war viel zu groß, um alleine darin zu leben und es unterhalten zu können. So hatte sie sich eine kleine Wohnung gesucht, die für sie bezahlbar war. Der Umzug in eine andere Wohngegend war ihr auch nicht leicht gefallen, aber manchmal muss man sich einfach den Gegebenheiten beugen. Eine Arbeit war schnell gefunden, schneller als sie gedacht hatte. Und nach einer kurzen Eingewöhnungsphase machte es ihr sogar Spaß, ihr Leben wieder selbst zu gestalten. Das gemeinsame Haus wurde nach der Scheidung verkauft, denn Rolf, der sich inzwischen bis in die Chefetage vorgearbeitet hatte, übernahm eine Filiale im Ausland. So hatte er wenigstens sein berufliches Ziel erreicht. Rolfs Eltern waren kurz danach in ein Seniorenstift in der Nähe ihrer Tochter gezogen. Sie konnten Iris die Scheidung nicht verzeihen und brachen den Kontakt zu ihr ab. ............................