Melinas Baby


Es ist der 14. August, ein Donnerstag. Die vergangenen Monate waren sehr schwer für Melina. Aber heute ist ein ganz besonderer Tag. Es ist später Vormittag. Die Sonne scheint durch das Fenster und verbreitet eine wohlige Wärme im Krankenzimmer. Melina liegt in ihrem Bett und hält liebevoll ihr kleines Töchterchen im Arm – ihre kleine Emily. Sie ist zwar müde und erschöpft von der Geburt, aber trotzdem glücklich. Etwa drei Stunden ist es her, dass sie dieses kleine Wesen geboren hat. Dabei ist sie eigentlich selbst noch ein Kind, mit ihren sechzehn Jahren. Ganz zerbrechlich sieht sie aus, wie sie da im Bett liegt, mit ihren blonden Locken und den braunen Rehaugen. Man sieht ihr die Strapazen der Entbindung, die sich über viele Stunden hingezogen hat, noch deutlich an.

 

„Das hast du ganz toll gemacht“, hatte die Hebamme direkt nach der Geburt zu ihr gesagt.

Sie ist ein wenig stolz darauf, diese Worte aus dem Munde einer Frau zu hören, die dem Alter nach ihre Mutter sein könnte. Melina schaut ihr Kind immerzu an, kann den Blick nicht von ihm wenden. Es ist wie ein kleines Wunder für sie. Noch ganz unvorstellbar, dass sie jetzt eine Mama ist. Emily ist knapp 3000 Gramm schwer und 46 Zentimeter groß. Auf dem Kopf zeigen sich einige blonde Haare, und die Augen sind strahlend blau, wie bei fast allen Babys.

Ein wenig Angst vor der Zukunft hat Melina schon. Die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen ist sicher nicht leicht, wenn man noch so jung und unerfahren ist. Aber sie will es schaffen, das hat sie sich fest vorgenommen. Am Anfang hatte sie noch gehofft, dass sich ihre Eltern bei ihr melden würden, und dass sie wieder nach Hause kann. Aber nach und nach ist diese Hoffnung geschwunden. Nun glaubt sie nicht mehr an eine Versöhnung mit den Eltern. Ein wenig Wehmut überkommt sie ganz plötzlich, und ein paar Tränen kullern aus ihren Augen. Doch die wischt sie ganz schnell weg. Heute ist keine Zeit für Traurigkeit. Heute ist ein Tag der Freude. Ihr kleines Mädchen ist kerngesund, wie der Arzt ihr kurz nach der Geburt mitgeteilt hat. Wie gerne würde sie ihr Töchterchen ihren Eltern und ihren Geschwistern zeigen, aber die wissen ja nicht einmal, dass Emily heute auf die Welt gekommen ist.

* * *

 

Nichts wissen sie von Melina und ihrem Kind. Nicht, wie es ihr in den letzten Monaten ergangen ist, oder wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Sie wissen nichts von dem Schmerz, den sie fühlt, weil ihre Eltern sie verstoßen und im Stich gelassen haben. Wissen nicht, wie es sich anfühlte, alles zu verlieren, was bisher in ihrem Leben wichtig war, und was ihr Halt und Geborgenheit gegeben hat. Dass sie manchmal unter schrecklichem Heimweh leidet, auch das wissen sie nicht. Sie ist doch noch so jung und bräuchte gerade jetzt die Geborgenheit ihrer Familie.

Seit dem großen Streit, als sie das Elternhaus fluchtartig verlassen hatte und zum Jugendamt gegangen war, um dort in ihrer Verzweiflung um Hilfe zu bitten, hatten sie kaum ein Wort miteinander gesprochen. Frau Jäger, die zuständige Sachbearbeiterin, hatte Melina nach Hause begleitet, um mit den Eltern zu reden. Doch das Gespräch zwischen Frau Jäger und ihren Eltern war nicht so verlaufen, wie Melina es sich heimlich gewünscht und erhofft hatte. So blieb ihr nichts anderes übrig, als schweren Herzens das Nötigste zusammenzupacken, das sie für die nächsten Monate brauchen würde, und mit Frau Jäger zusammen das Haus zu verlassen. Ihre Eltern würdigten sie keines Blickes. Sie zeigten sich unversöhnlich, weil ihre Tochter sich ihren Anordnungen widersetzt hatte. Das hatte Melina sehr wehgetan. Sie war sehr traurig darüber, ihr Zuhause verlassen zu müssen. Selbst von ihren Geschwistern konnte sie sich nicht verabschieden, weil diese nicht daheim waren.


Frau Jäger nahm Melina mit zum Jugendamt. Dort besprachen sie gemeinsam, wie es nun für sie weitergehen sollte. In der Kreisstadt gab es leider keine Möglichkeit Melina in einer Wohngruppe unterzubringen. Die nächste Wohngruppe für minderjährige Schwangere befand sich im Frankfurter Stadtteil Riedberg. Frau Jäger führte einige Telefonate und hatte schließlich einen Platz für Melina gefunden. Nun musste sie doch weg von ihrer gewohnten Umgebung, aber immerhin waren es nur 70 Kilometer, und nicht so weit wie zu Tante Erika.

Vielleicht war es ganz gut so. Hier würde sie wenigstens niemandem begegnen, der sie mit vorwurfsvollem oder schadenfrohem Blick ansehen konnte. Frau Jäger brachte Melina am Nachmittag in ihr neues Zuhause, in dem sie seitdem lebte. Von ihren Eltern hatte sie nichts mehr gehört. Es war zum vollkommenen Bruch zwischen ihnen gekommen. Auch zu ihren Geschwistern hatte sie keinen Kontakt. Sie war sich nicht einmal sicher, ob Tim und Jasmin überhaupt wussten, dass sie schwanger war, und wo sie jetzt wohnte. Die Eltern hatten ihnen bestimmt nichts erzählt.

Heute kann sie nicht mehr verstehen, wie es überhaupt so weit kommen konnte. Ihre Eltern waren zwar streng, aber immer gerecht gewesen. Auch wenn es ab und zu einmal zu Streitigkeiten in der Familie gekommen war, weil die Meinung der Eltern und der Kinder nicht immer übereinstimmte, so hatten sich die Wogen doch meistens schnell wieder geglättet, nachdem ein klärendes Gespräch stattgefunden hatte. Aber dieses Mal war alles anders. ..............................................................